Sonntag, 24. Juni 2012

Gedanken zum Phänomen ZEIT


"Hallo lieber Mario, allein die Zeit - wenn es denn mal mehr würde. was meinst Du, hat man im Alter mehr Zeit? Meine Vermutung ist: Nein. Vielleicht aber weniger Verpflichtungen und dadurch weniger Last und dadurch das Gefühl mehr Zeit zu haben?! Oder ist es nur der fromme Wunsch zumindest irgendwann im Alter - wenn die Rente beginnt - alles ein wenig besser und beschaulicher zu haben ? Oder liegt es nur daran ( wie jetzt auch) ob man viel oder wenig zur Verfügung hat?? Fragen eines fast Rentners ...LG (...)"


Als ich diese Zeilen erhielt habe ich spontan nachgefragt, ob ich sie als Aufhänger für einen Blog-Eintrag benutzen darf.
Es sind Fragen, die uns so - oder so ähnlich - immer wieder begegnen bei anderen Menschen aber auch bei uns selbst.

DIE ZEIT ist immer gleich, als Maßeinheit unterteilt sie den Tag in 24 Stunden. Diese 24 Stunden werden allgemein unterteilt in drei Bereiche: in Arbeitszeit, Freizeit und Regenerationszeit (Schlaf). Je nach Lebensabschnitt nehmen diese drei Teile unterschiedlichen Raum ein.

Das bedeutet, dass wir immer die gleiche Menge zur Verfügung haben, nämlich 24 Stunden am Tag, sieben Tage in der Woche usw. Es scheint also eher die Frage nach unseren Ansprüchen zu. Was wollen wir alles in der uns zur Verfügung stehenden Zeit schaffen und - fast noch wichtiger - was können wir in der Zeit schaffen. 

Und hier kommen individuelle Fähigkeiten und das Setzen von Prioritäten hinzu. Nicht jede Tätigkeit kann von jedem Menschen in der gleichen Geschwindigkeit ausgeführt werden. Und wie würde wohl ein Kind Zeit erleben und erklären?
Was sind schon drei Stunden intensives und lustvolles Spiel im Verhältnis zu drei Stunden Wartezeit auf den Weihnachtsmann? Wie quälend langsam vergehen 10 Minuten, beim Warten auf einen verspäteten Zug, und wie schnell vergehen oft Stunden in fröhlicher Runde.

Was ändert sich im Alter? Wird alles besser, wenn der "Bereich" Arbeit entfällt? Hurra, acht Stunden Zeit pro Tag mehr zur Verfügung. Doch halt, hören wir nicht immer wieder von den Rentnern, die gar keine Zeit mehr haben oder zumindest genauso wenig wie früher? 

Was hat es damit auf sich? Sind die heute "zeitlosen" Rentner vielleicht einfach nur Opfer eines Wertewandels? Früher wurde Freizeit = freie (zu gestaltende) Zeit als der Bereich bezeichnet, in dem der Mensch sich "weiter bildet" sich entwickelt und vervollkommnet. Spätestens seit Benjamin Franklin (1709 bis 1790) wissen wir: "Zeit ist Geld".

Also, muss - wer als nützliches Mitglied der Gesellschaft anerkannt werden will - seine Zeit sinnvoll nutzen. Aber was ist "sinnvoll"? Ich mache es mir jetzt mal einfach: Was die wichtigen Menschen in unserer Gesellschaft tun ist sinnvoll. Da wir oft gar nicht wissen und /oder beurteilen können was die eigentlich tun, orientieren wir uns an Äußerlichkeiten. Und da fällt eines sofort ins Auge. Wichtige Menschen haben keine Zeit, sie stehen ständig unter Strom und hetzen von Termin zu Termin, sie sind "voll beschäftigt".

Was liegt also näher im Alter, als sich die gesellschaftliche Anerkennung und die eigene Bedeutung über die "Zeit" zu erhalten. So mancher Rentner, der eben noch ein zufälliges Treffen mit einem noch berufstätigen Kollegen in der Fußgängerzone mit den Worten "ich muss jetzt aber weiter, ich bin in Eile" beendet hat und sich schnelles Schrittes entfernte verfällt - kaum außer Sichtweite - wieder in seinen gemütlichen Schlenderschritt, sorgsam darauf bedacht nicht all zu früh vor der verabredeten Zeit zum Mittagessen zu Hause zu erscheinen.

Ist es eine Täuschung der Umwelt oder eine Selbsttäuschung? Ich glaube, die Zahl der Menschen die sich tatsächlich auch nach Ende der Berufstätigkeit noch viel "Arbeit" aufladen (lassen?) und die Zahl derer, die den Anschein der Geschäftigkeit (Wichtigkeit?) erwecken ist in etwas gleich groß. Insgesamt scheint es mir aber eher ein Problem der Männer zu sein, die auf die eine oder andere Weise gegen den Statusverlust ankämpfen.

ABER: Es verändert sich tatsächlich auch etwas im Alter, langsam schleichend und selten akzeptiert.

Wir werden von Geburt an älter. Die ersten Jahre erleben wir dabei subjektiv wie objektiv als eine Zeit des Zugewinns an Kraft, Schnelligkeit  und Geschicklichkeit. Der relativ bald beginnende Abbau der gerade gewonnenen Fähigkeiten lässt sich über eine Reihe von Jahren über Erfahrung, Techniken und Routine kompensieren. 

Aber es folgt unweigerlich die Phase, in der wir für die Verrichtung gleicher Tätigkeiten und Aktivitäten schlicht mehr Zeit brauchen. Eine Zeit, in der wir nicht mehr mehrere Dinge gleichzeitig bedenken und/oder ausführen können. Eine Zeit, in der unerklärlicherweise die Bedienungseinheiten vieler Geräte immer unhandlicher und die Tabletten immer kleiner werden und partout die Verpackung nicht verlassen wollen, in der sich Knöpfe und Knopflöcher unserer gewohnten Fingerfertigkeit widersetzen und immer mehr Neuerungen auf dem Markt von den Jüngeren geradezu enthusiastisch erwartet und gefeiert werden, die wir als schlicht überflüssig und zu kompliziert erachten.

Unsere Gesellschaft wird immer schneller, am deutlichsten ablesbar an den immer kürzeren Abständen in denen die "neuen Generationen" von Produkten präsentiert werden. Da neue Produkte die alten in der Regel innerhalb kürzester Zeit vom Markt verdrängen, müssen ältere Menschen die naturgemäß etwas langsamer werden häufiger Zeit für das Studium der immer umfangreicheren Handbücher und Bedienungsanleitungen investieren - Zeit die für andere Dinge fehlt.

Mein lieber Freund, der Du durch Deine Mitteilung/Frage den Anstoß gegeben hast meine sicherlich unvollständigen Überlegungen mal zu bündeln und hier zu posten, lass mich Dir heute mit einem Zitat von dem römischen Dichter Quintus Horatius Flaccus (65 v. Chr. bis 8 v. Chr.), besser bekannt als Horaz antworten:

"Spem longam reseces. Dum loquimur, fugerit invida Aetas. Carpe diem quam minimum credula postero."
(Beschneide die ins Weite gehende Hoffnung. Während wir sprechen, flieht die neidische Zeit. Greif nach dem heutigen Tag, da Du dem morgigen schon nicht mehr vertrauen kannst.)


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